Selbstführung durch eine Pause vom Reagieren
Hast du das Gefühl du führst dich selbst oder fühlt es sich vielmehr so an, als würden die Umstände zu oft bestimmen wo es lang geht? Hast du dir schon mal angeschaut, wie deine persönlichen Reaktionsmuster so aussehen? Wie oft du etwas ganz automatisch machst? Und wie oft dann etwas dabei herauskommt, das du eigentlich lieber anders gehabt hättest?
Manchmal sind wir im Alltag so beschäftigt und aktiviert, dass wir in eine Art Hyper-Reaktionsmodus verfallen. Von Termin zu Termin. Von Todo zu Todo. Unser Leben hat uns fest im Griff und unser Nervensystem kommt in eine Art Dauer-Ausnahmezustand. Unsere Reaktionen verselbständigen sich. Eine - nach - der - anderen. So entstehen Kettenreaktionen und schnell ist man nur noch Beifahrer/in im eigenen Leben. Dazu eine kleine Geschichte: ich habe interessehalber den einen oder anderen Horsemanship-Kurs besucht. Beim Horsemanship geht es darum, die Prinzipien der Pferd-Pferd-Kommunikation auf Pferd-Mensch-Beziehungen zu übertragen. Und ich wollte lernen wie das funktioniert.
Führen oder Folgen?
In einem der Kurse demonstrierte die Trainerin ihre Wirkung auf ein Pferd beim freien Training. Dabei wird das Pferd ohne Strick in einem abgezäunten Areal alleine durch die menschliche Körpersprache schneller oder langsamer in die gewünschte Richtung bewegt. Das Pferd war recht aufgeregt und galoppierte ziemlich wild los. Ich stand also am Zaun, bekam tierisch Respekt und dachte mit großen Augen: "Ein Glück, dass ich da nicht drin stehe." Ich hatte meinen Gedanken noch gar nicht richtig zuende gedacht, da meinte die Trainerin: "Schaut mal, ich mach eigentlich gar nichts und das Pferd ist trotzdem tierisch beeindruckt."
Gelassenes Nicht-Reagieren kann Wunder wirken.
Dieser Satz war magisch für mich. Diese Situation, die in mir ein lautes "Was würde ich machen?!" auslöste, wurde von der Trainerin mit einem "Ich muss gar nichts machen." völlig anders bewertet. Natürlich hat die Trainerin einen anderen Zugang zu Pferden und bedeutend mehr Erfahrung, aber umso einprägsamer war für mich ihre Reaktion, denn ich hatte schon oft erlebt wie sie ganz natürlich die Führungsrolle übernahm. Dass auch ein Nicht-Reagieren ein Zeichen von Führung sein kann, war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar. Ich verstand mit einem Mal eines der Elemente, die Führen von Folgen unterscheiden: der Umgang mit den äußeren Umständen und deren Interpretation. Das Nicht-Reagieren und die Gelassenheit der Trainerin wurden möglich durch eine andere Deutung der Situation. Statt "Oje" ein "Wow"! Statt defensiv und außen-orientiert: voll präsent und selbst-zentriert.
Warum reagieren wir überhaupt so oft?
Um uns herum und auch in uns gibt es permanent Millionen von Reizen. Ein Großteil davon wird ausgeblendet und/oder unterbewusst verarbeitet. Welche Reize wir wie deuten und auf welche Reize wir wie reagieren hängt ziemlich stark von unseren inneren Blaupausen ab. Diese Blaupausen schreiben vor, wie etwas zu sein oder abzulaufen hat. Unsere Reizverarbeitung ist daher ziemlich individuell. Kleinigkeiten, die manch einen auf die Palme bringen, können für andere schlicht und einfach nicht existent sein.
Unsere Blaupausen sind Filter mit Handlungsanweisung.
Unser Unterbewusstsein gleicht vereinfacht gesagt unsere Umwelt auf Hinweise darauf ab, welches Handlungsmuster gerade hilfreich sein könnte. Wir nehmen also vor allem das wahr, was zu unseren abgespeicherten Mustern passt. Neutral geht anders. Das ist aber oft auch ganz hilfreich - Automatismen entlasten unseren Denkapparat. Aber sie bringen uns manchmal eben auch in ziemliche Schwierigkeiten. Solche Automatismen können übrigens auch innere Reaktionen auslösen. Also nicht nur Handlungen, sondern auch Kopfkino zum Beispiel. Also ein unschöner, nicht wirklich hilfreicher Film, der die Zukunft bereits vorweg nimmt, Handlungsmöglichkeiten einschränkt und Automatismem bis zur selbst erfüllenden Prophezeiung aneinanderreihen kann.
Innere Antreiber wirken wie Meta-Automatismen.
Ein anderes Beispiel für Automatismen: innere Antreiber. Sie haben viel mit unseren Reaktionsmustern zu tun. Sie sitzen wie eine Färbung hinter allem was wir so tun und denken: "sei schnell" oder "sei brav" zum Beispiel. Sie funktionieren in der Seins-Form, sie sind also grundsätzlicher Natur und haben so die Kraft all unser Denken, Fühlen und Handeln zu überlagern. Wenn wir uns nun unterbewusst veranlasst sehen, alles in schnell oder brav zu machen, kann das ziemlich kräftezehrend sein. Und wir entfernen uns damit von unseren eigenen, inneren Wahrheiten, ohne es zu merken. Die Überzeugung, in allem schnell sein zu müssen, wirkt zum Beispiel als Reaktionsverstärker. Für Reflexion bleibt kein Raum. Aber welche Muster tragen wir denn überhaupt so mit uns herum?
Stressmuster als Goldgruben der Persönlichkeitsentwicklung
Ein kleiner Trick wenn du deinen Mustern auf die Schliche kommen willst: schau dir zum Beispiel mal selbst zu was du in einer sehr stressigen Situation machst. Das kann wirklich sehr aufschlussreich sein! Denn das was wir in end-stressigen Situationen wiederholt automatisch abspielen, sind oft sehr alte und tief verankerte Muster. Der Körper übernimmt. Er schaltet auf Autopilot und wir können nichts dagegen tun. Denn: wenn wir in Stress geraten, laufen wir im Notprogramm - wir haben also keine Ressourcen mehr, um unsere Automatikprogramme bewusst zu übersteuern. Sie brechen sich Bahn - ob wir wollen oder nicht. Was wir tun, wenn wir genervt sind, ist übrigens anscheinend oft genau das, was uns "passiert" ist, als wir klein waren. Und so haben wir unterbewusst abgespeichert und gelernt, wie "man" unter Stress reagiert.
Muster stabilisieren sich bei jeder Nutzung.
Die Krux bei den Mustern: sie erhalten sich durch die automatische Aktivierung selbst. Jedes mal wenn sie unterbewusst aktiviert werden, werden sie "gepflegt". Wie eine Art Trampelpfad, der keine Abzweigung hat. Links und rechts nur unüberwindbare grüne Wände, die von mal zu mal höher wachsen, während der Pfad immer breiter wird. Und: wir schleichen nicht da durch, sondern wir rasen - ohne Bremse. Die Fahrt ist erst beendet, wenn das Muster vollständig abgespielt wurde. Aussteigen? Fast unmöglich. Denn dadurch, dass die Muster unterbewusst abgespeichert sind, haben wir keinen direkten Zugriff auf sie. Zum Glück haben wir aber - indirekt - trotzdem Möglichkeiten mit und an diesen Mustern zu arbeiten.
Momente liebevoller Selbstführung können den Unterschied machen.
Wenn wir, bevor der Trampelpfad-Zug abfährt, immer wieder Momente einbauen, in denen wir uns gegenüber bewusst eine liebevolle Führungsrolle einnehmen, können wir das Tempo verlangsamen und uns Abzweigungen, also neue Gedanken und damit neue Handlungsmöglichkeiten schaffen. Je öfter wir das tun, umso leichter wird es, vom Haupttrampelpfad abzubiegen. Denn wo das Tempo angenehm ist und es auf einmal Abzweigungen gibt (die mit jeder Benutzung immer breiter werden), versetzen wir unser System in die Lage zu fragen: wo sollen wir lang? Bislang stellt sich diese Frage einfach nicht. Meine Erfahrung: mit etwas Übung wird diese Rückfrage automatisch in den Ablauf eingebaut. Nach dem Motto: "Hey, hier sind wir schon ein paar mal anders abgebogen, sollen wir das heut wieder machen?", erinnert unser freundliches Gehirn daran, dass wir etwas verändern wollten. Die gute Nachricht also: wir können uns darin üben, unsere Muster zu verändern. Die anstrengende Nachricht: wir sollten das bereits machen, bevor uns Stress handlungsunfähig und reaktionsfreudig macht.
Stop-Taste drücken und Perspektive ändern
Wollen wir also aus dem Reaktionsmodus heraus, können wir ausprobieren, ob wir ganz kurz innehalten können. Am besten immer wieder mal, weit bevor die wüsteren Reaktionsmuster-Pfade betreten werden. Zum Beispiel durch eine Mikropause: ein paar Sekunden gar nichts machen. Gar nichts. Außer atmen. Und spüren was ist. Der Körper bekommt so eine Möglichkeit sich kurz mal locker zu machen. Und dann kann es gleich auch wieder weitergehen. Das Anhalten ist das Wichtige, die Dauer ist erst mal zweitrangig.
Eine hilfreiche Aufgabe für den Kopf muss her.
Nun haben wir aber auch noch einen Kopf. Und der springt gern in die Bresche, wenn der Körper gerade nicht wild beschäftigt ist - zum Beispiel weil wir uns selbst eine kurze Pause verordnet haben. Deswegen gehen manche Menschen übrigens so gerne laufen (me too): wenn der Körper beschäftigt ist, ist der Kopf mit der Bewegung beschäftigt und lässt andere Themen leichter los. Das macht sich vor allem bemerkbar, wenn wir sehr analytisch veranlagt sind und es gewohnt sind, all unsere Themen durch Nachdenken zu lösen. Der Kopf ist dann dressiert, stets aktiv zu sein. Geben wir dem Kopf also keine gescheite Aufgabe, könnte er in unserer bewussten Pause innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder Ideen aufgreifen, die sehr nah an den alten Mustern dran sind (das Kopfkino zum Beispiel) - einfach, weil das bisher immer genau so sein Job war.
Perspektivwechsel als Musterbruch-Übung für den Kopf.
Unser Kopf meint es gut mit uns, wir wollen ihn also gar nicht rausdrängeln. Aber wir können wählen welche Aufgabe wir ihm in unserem kurzen Pause-Moment geben. Zum Beispiel die Knobel-Frage: "Könnte man das auch anders sehen?" oder das Rätsel-Statement "Nichts ist wie es scheint.". So hat der Kopf was zum Nachdenken im Moment und wird nicht mit einer Zwangspause überfordert. Wir wollen es uns ja leicht machen. Wir setzen einfach nur die Zäsur und schauen was sich zeigen will. Und unterstützen unseren Kopf mit der einen oder anderen Frage. Zum Beispiel auch: Was ist jetzt da? Kann ich das alles für einen kurzen Moment einfach nur da sein lassen? Auch wenn ich mich nicht perfekt wohlfühle damit? Wie geht es mir damit? Fühlt es sich ungewohnt an, nicht in die Reaktion zu springen? Was ist jetzt wirklich dran? Was wäre, wenn ich das jetzt nicht machen würde? Was ist das Positive in dieser Situation?
Schaff dir deine Lücke und einen frischen Blick.
Wenn du diesen einen kleinen Moment ergattert hast, hast du eine wunderbare Chance die "was tut das Leben gerade für mich"-Brille aufzusetzen. Solch ein Perspektivwechsel ist ein schöner Impuls für das Anpassen unserer Muster. Welche Bedeutung geben wir dem Ganzen und welche Haltung sind wir einzunehmen imstande. Weise Menschen sagen: "Keine Sache hat eine Bedeutung - außer die, die wir ihr geben." Bei meinem Pferdebeispiel habe ich beispielsweise ein rennendes Pferd als eine Art Bedrohung gesehen, während meine Trainerin dieselbe Situation als durchaus positives (im Sinne von "sichtbares") Zeichen ihrer Präsenz interpretierte. Was mich nahezu handlungsunfähig gemacht hätte, war für sie ein vertrauenspendendes, bestärkendes Signal. Natürlich gab es ein Erfahrungsungleichgewicht. Aber ich stelle hier mal die Hypothese auf, dass wir mit etwas Übung auch ohne Erfahrung selbsthilfreich interpretieren könnten. Inwiefern kann ich sehen, dass das Leben für mich ist? Das kann man wunderbar üben. Schon bei Alltags-Erfahrungen können wir unseren Interpretationsrahmen immer wieder überprüfen. Also: auf zum munteren Reframen!
Ein aktives Nicht-Reagieren
Beim Nicht-Reagieren geht es für's Erste rein darum, automatische Aktivität für einen ganz kurzen Moment auszusetzen. Eine minimale Unterbrechung. Bereits damit beginnen wir, Muster zu verändern. Das bedeutet übrigens nicht, im Geschehen eine passive Rolle einzunehmen. Wer immer wieder Sekunden-Momente der Pause, des Fühlens, Anerkennens und des Staunens einbauen kann, der lernt sich selbst besser zu spüren und damit auch ganzheitlicher einzuschätzen, was jetzt dran ist. Das ergibt einen tollen Früh-Indikator - ein ruhiger mentaler Zustand ermöglicht besseres Timing für die eigene Aktivität.
Die Kunst des Nicht-Reagierens ist sehr einfühlsam.
Nicht sofort zu reagieren bedeutet daher eben auch nicht, die Zeichen der Zeit und der Umwelt zu ignorieren. Es geht vielmehr sogar um deutlich besseren Kontakt zur Umwelt, als das im automatischen Reaktionsmodus möglich ist. Denn man befindet sich sowohl mehr bei sich selbst, als auch in der Präsenz mit allem was ist. Es ist damit ein Tanz, der auch das Abgeben von Kontrolle beinhaltet. Wir können (uns) nicht führen, wenn wir über alles die Kontrolle haben wollen. Denn damit schalten wir das Gehirn in den Hyper-Aktivitätsmodus, in dem Pausen und echtes Gewahrsein nicht möglich sind. Am Beispiel der Pferdetrainerin hieß das zum Beispiel, das Pferd nicht pausenlos in seiner Bewegung zu kontrollieren. Die Trainerin hat nicht auf alles reagiert was das Pferd tat oder nicht tat. Sondern sie hat sanft einen Korridor und eine Richtung unterstützt - aber auch unmittelbar etwas verändert wenn die von ihr gesetzten Leitlinien überschritten wurden. So wusste das Pferd binnen kürzester Zeit was ok ist und was nicht - und konnte sich beruhigen und entspannen.
Wir dürfen lernen, uns das Nicht-Reagieren zu erlauben.
Wir müssen nicht auf alles sofort reagieren. Und wir dürfen lernen, uns das auch zu erlauben. Und ein Anfang sind diese ganz kurzen Momente. In ihnen liegt der Zauber des Neubeginns - hinein in etwas Unbekanntes. Zwei oder drei Sekunden - das ist nahezu jederzeit möglich. Es reicht, sich gewahr zu werden was ist - selbst wenn die Situation danach genauso abläuft wie immer. Wir haben einen Anfang gemacht und unser Unterbewusstsein wird sich einen Reim darauf machen, dass wir zum ersten mal nicht von Anfang bis Ende der Beifahrer waren. Wenn wir gut zu uns selbst sind, werden wir uns nicht verurteilen und einfach weiter üben.
Ein Auftrag an uns selbst
Wir können uns dafür selbst einen kleinen Auftrag geben. Zum Beispiel, einen Moment innezuhalten, wenn wir eigentlich in ein automatisches Muster einsteigen würden. Manchmal verpassen wir vielleicht den Moment komplett, ein anderes mal sind wir zu spät dran, wieder ein anderes mal gelingt es uns vielleicht nicht so richtig. Aber das macht nichts. Der Versuch zählt - und er wird sich auszahlen. Von mal zu mal werden wir leichter in diesen Mikro-Moment eintauchen können. Und dann die Magie spüren. Denn die liegt dazwischen. In der Pause. Und in allem was danach in Kopf und Körper an Reorganisation passiert.
Musterarbeit als Selbstfürsorge-Übung.
Und übrigens: Musterarbeit hat sehr viel mit Selbstfürsorge zu tun. Es geht nicht darum, sich zu kritisieren und zu optimieren. Sondern vielmehr darum, mehr in Verbindung mit sich selbst zu kommen. Auch Nachsicht mit sich selbst kann man üben - vielleicht magst du das ja gleich in deine nächste aktive Mikro-Pause einbauen. Perspektivwechsel und Mikro-Pausen - das ist in jedem Fall eine wunderbare Kombination auf dem Weg zu mehr Verbundenheit. Wie die Trainerin, die in ihrer turbulenten Umwelt Nachweise für ihre Selbstwirksamkeit sah. Sie konnte einen kühlen Kopf bewahren und die Situation zu ihren Gunsten interpretieren. Das ist eine Kombination, die weit tragen kann.
Alles Liebe und fröhliches Pausieren!
Eure Rebecca